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Das Märchen von der Rangordnung in Pferdeherden

25.Jul 2022 | Wissenswertes

Pferde leben in festen Hierarchien – das ist für die Reiterwelt völlig klar und auf dieser Überzeugung gründen letztlich auch die meisten Interaktionen mit ihnen. Allein: Es gibt inzwischen zahlreiche Studien, die nahelegen, dass es gar keine Rangordnung in Pferdeherden gibt. Über einen noch ungewohnten Blick auf das Pferdeverhalten – und die Chancen, die uns und vor allem den Pferden daraus entstehen.

Ein Paddock, irgendwo in Deutschland. Vier Pferde stehen um eine Heuraufe herum. Ein fünftes nähert sich von hinten, legt die Ohren an und wirft den Kopf in Richtung des Pferdes, das ihm am nächsten ist. Dieses sucht das Weite, während Pferd Nr. 5 die Nase ins Heu steckt und zu fressen beginnt. Wir stehen am Zaun und beobachten die Szene, irgendjemand murmelt: “Ah, da kommt der Chef.”

Als ReiterInnen haben wir gelernt, das Pferd so zu sehen: Als Tier, dessen Denk- und Verhaltenswelt klar auf Rangordnung geeicht ist, und das diese bei jeder Gelegenheit zeigt, sucht, ja sogar braucht. Darauf gründen sich die meisten Trainingsmethoden direkt oder indirekt, unsere Interpretation von Verhalten und damit, am allerwichtigsten: Unser Blick auf die Pferde, unser Verhältnis zu ihnen.

Was können wir aus der Pferdeverhaltensforschung lernen? Unter anderem die Trennung von Wahrnehmung und Interpretation.

Seit einigen Jahren beschäftige ich mich vermehrt mit Pferdeverhaltensforschung. Ich habe den Kontakt zu aktiven EthologInnen gesucht und gefunden, die an Pferdeherden auf der ganzen Welt forschen, Workshops mit diesen besucht und organisiert, und viele Bücher, Abhandlungen und Studien gelesen. Das macht nicht nur viel Spaß, sondern ist höchst interessant. Ich habe nochmal so viel über Pferde gelernt! Was ich aber auch gelernt habe: Die Verhaltensforschung bemüht sich vor allem sehr, beobachtbares Verhalten (also: ein Pferd nähert sich einem anderen mit angelegten Ohren) von menschlicher Interpretation (also: es will seine Chefposition sichern) zu trennen. Und hier liegen auch für uns als Pferdemenschen ganz viele Chancen.

Abgesehen davon, dass wir von der Trennung zwischen “Was passiert hier gerade?” und “Was mache ich daraus?” immer profitieren (das Thema begegnet mir auch sehr oft im Coaching von Menschen), bringt sie uns immer wieder in die Vogelperspektive, d.h. auch: Sie macht uns demütiger und achtsamer. Wir können unsere Pferde besser wahrnehmen, wenn wir die Interpretation des Verhaltens erstmal hinten anstellen, sie mehr so sehen wie die Pferde uns. Und: Wir neigen weniger dazu, das Erlebte persönlich zu nehmen, zu bewerten und in Schubladen zu stecken. Es ist einfach erstmal.

Und von allen inhaltlichen Learnings, die ich aus der Verhaltensforschung bisher ziehen durfte, ist mir eines als ganz zentral hängen geblieben, was dort oft beinahe beiläufig Erwähnung findet: Nachdem auch die Verhaltensforschung jahrzehntelang Rangordnungen unter Pferden untersucht hat, sie ebenfalls durch diese Brille betrachtet hat, ohne das weiter zu hinterfragen (es handelte sich um ein übernommenes Konzept, ursprünglich aus der Beobachtung von in Gefangenschaft gehaltenen Wölfen), ist sie inzwischen davon abgekommen. Zunehmend auf die Probe gestellt, konnte einfach kein zuverlässiger Zusammenhang zwischen dem beobachteten Verhalten und dieser Interpretation dazu nachgewiesen werden. Immer gab es andere Gründe, mit denen sich das Verhalten ebenfalls erklären ließ. Zudem mehren sich auch die Studien, die widerlegen, dass es eine feste Rangordnung unter Pferden geben kann, weil dies eben nicht zusammenpassen würde, mit dem, was die Forscher beobachteten.

Zu vieles spricht inzwischen gegen die Rangordnung, es scheint, als gäbe es einfach immer eine passendere Interpretation.

Nach meinem bisherigen Verständnis (und nur dieses kann ich hier darstellen) kann man sich frei lebende Pferdeherden stattdessen viel mehr als äußerst komplex organisierte soziale Zusammenschlüsse vorstellen, die aus individuellen Charakteren mit flexibel verteilten Rollen bestehen und die sich als Gruppe als eine Art selbstorganisierte Massenbewegung bewegen, vergleichbar mit einer Fischschule oder einem Vogelschwarm. Klassisch besteht ein Zusammenschluss aus einem Hengst mit einigen Stuten, bei dem der Hengst schon tragende Rollen übernimmt, der allerdings nicht im hierarchischen Sinne über den Stuten steht. Es gibt aber auch nicht die eine Leitstute, die die Herde führt, vielmehr reagieren die Pferde mit- und aufeinander flexibel, jeder bringt dabei ein, was er hat und achtet auf den anderen.

Aber wie organisieren sich Pferdeherden denn dann?

Frei lebende Pferde brauchen keine Dominanzhierarchien, denn es gibt kaum etwas, worüber man dominant sein müsste. Futter ist genug für alle da, und ansonsten fokussieren sich die Pferde vor allem darauf zusammenzuhalten, um sich möglichst gut vor Raubtieren zu schützen. Rangkämpfe würden unnötig Energie kosten, die man später fürs Wegrennen brauchen könnte.

Wenn wir also weiter davon ausgehen, dass es einfach diese eine Rangordnung gibt, tun wir den Pferden nicht nur Unrecht, wir unterschätzen sie auch radikal. Damit eine Herde funktioniert, braucht es nicht nur sehr weit entwickelte soziale Verhaltensweisen und eine extrem feine Wahrnehmung, sondern auch die individuellen Stärken aller Mitglieder.

Warum wurde diese Vorstellung also in der Forschung also so lange nicht hinterfragt? Nun, hier können wir nur spekulieren, nahe liegt aber, dass der Fehler hier u.a. in Denkkonzepten liegt, die bei den Forschern selbst so tief drinsteckten, dass sie nicht hinterfragt werden, und uns selbst wird es ähnlich gehen: Wir gehen einfach davon aus, dass Gesellschaften hierarchisch organisiert sind, weil wir es selbst in unseren auf Militärvergangenheit beruhenden Kulturen nur so kennen. Ob dieses Denken nun in der menschlichen Natur steckt oder anerzogen wurde, ist nochmal eine andere spannende Frage. (Ich würde sagen: Letzteres.)

Naja, könnte man sagen, Wissenschaft überholt sich ja immer mal wieder selbst, ist ja nicht so schlimm. Wenn die Unterstellung einer natürlichen Rangordnung nicht so viele negative Implikationen für das Pferd hätte.

Die Unterstellung einer natürlichen Rangordnung ist die Grundlage vielen Leids unserer Pferde.

  1. Im Training: Wenn wir davon ausgehen, dass Pferde eine Rangordnung suchen und brauchen, gibt es für uns als Menschen daraus nur eine mögliche Ableitung, wenn wir das Pferd in irgendeiner Form “nutzen” wollen: Wir müssen uns über das Pferd stellen. Aber da das Pferd dies ja dann auch so sucht, kann man trotzdem nachts wunderbar schlafen. Oder? Der Begriff “Dominanztraining” ist in weiten Teilen der Pferdewelt prinzipiell inzwischen wieder verpönt, aber solange das Rangordnungsparadigma weiter herrscht, bleibt das normale Bild von ReiterInnen in den Ställen und Reithallen einfach ziemlich dominant.
  2. In der Haltung: Wenn wir davon ausgehen, dass Pferde in Rangordnungen organisiert und entsprechend auch Rangauseinandersetzungen normal sind, sehen wir in den täglichen Kampfsituationen auf den Weiden und Paddocks eben “Rangklärungen”, ohne uns zu fragen, welche Rolle etwa Lernverhalten und Stress, etwa falsches Management in Haltung, Herdenzusammensetzung, Fütterung und der Gesundheitszustand der Individuen spielen könnten.

Denn warum sieht man Pferd Nr. 5 dem anderen Pferd drohen? Hier kommen ganz unterschiedliche Gründe infrage, denn Pferde sind eben individuell: Vielleicht hat Pferd Nr. 5 gelernt hat, dass es dadurch an Futter herankommt und Futter oder Nährstoffe knapp sind oder es in seinem Leben schonmal waren. Vielleicht hat Pferd Nr. 5 ein größeres Bedürfnis für individuellen Raum, als es die Fütterungssituation in dem Moment zulässt. Vielleicht hat Pferd Nr. 5 Schmerzen, ist insgesamt entsprechend angespannt und lässt seinen Ärger an dem nächstbesten Pferd aus. Vielleicht gibt es auch einen schwelenden Konflikt mit diesem anderen Pferd. Vielleicht ist etwas ganz anderes, oder es ist eine Mischung aus unterschiedlichen Faktoren. Aber hat irgendetwas davon etwas mit “Chefsein” zu tun? So leicht nicht.

Wir sehen oft täglich die gleichen Konfliktsituationen in Pferdegruppen, z.B. zur Fütterungszeit oder rund um Heuraufen. Wenn Pferden die Rangordnung so im Blut läge – warum müssen sie dann ständig die gleichen Konflikte austragen? Sollten sie es dann nicht hinkriegen, die Rangordnung einmal “zu klären” und dann damit zu leben…? Laut Lucy Rees, einer Ethologin, die in Spanien u.a. eine eigene Pottoka-Wildpferdeherde auf 1200 ha zu Beobachtungszwecken hält, liegt die Erklärung vielmehr darin, dass Pferde einfach nicht besonders gut in Auseinandersetzungen und nachhaltigen oder friedlichen Klärungen von Konflikten sind – denn sie vermeiden sie eigentlich am allerliebsten und wo sie können. Platt gesagt: Es liegt NICHT in ihrer Natur, ständig aggressiv zu sein, dieses Verhalten ist (auf die ein oder andere Art) oft menschengemacht. Gelingt es einer Pferdegruppe mit Auseinandersetzungen insgesamt doch harmonisch zusammenzuleben, dann nicht etwa wegen, sondern trotz der Konflikte. Das ist ein wichtiger Unterschied.

Und wie können wir unseren Pferden ohne die Rangordnungsidee begegnen?

So, das waren in aller Kürze einmal meine bisherigen Erkenntnisse dazu. Was können wir als Pferdemenschen also mit diesem neuen Blick tun?

– Wir können unseren Pferden insgesamt noch offener begegnen.

– Wir können üben, das, was wir sehen, von unserer (gelernten) Interpretation zu trennen: Wenn ein Pferd klassisch “dominantes” Verhalten zeigt, die Ohren anlegt, ja, sogar, wenn es unmissverständlich Aggression zeigt, kann das je nach Situation und Individuum sehr viele unterschiedliche Gründe haben.

– Wir können den Pferden zugestehen, dass sie in jedem Fall einen guten und individuellen Grund für ihr Verhalten haben.

– Wir können ein Mal mehr erkennen, dass wir die Verantwortung dafür tragen, dass unsere domestizierten Pferde ihre natürlichen Bedürfnisse zu jeder Zeit möglichst gut ausleben können, um Auseinandersetzungen zwischen den Pferden auf ein Minimum zu reduzieren.

– Wir können aufhören, ungefiltert hinzunehmen, was wir gesagt bekommen und uns trauen, auf unser Gefühl zu vertrauen – auch und insbesondere was die Frage angeht, wie es unseren Pferden geht (lustigerweise können Laien Pferdemimik oft zuverlässiger richtig deuten, als pferdeerfahrene Menschen mit entsprechend gefärbter Brille).

– Wir können feststellen, dass wir die Pferde nicht unterdrücken müssen, damit sie mit uns kooperieren, wir müssen nicht einmal das Leittier/der Leithengst/die Leitstute sein, sondern dürfen einfach wir selbst sein.

– Wir können erforschen, wie sich, wenn diese Erkenntnis erstmal einsickert, ganz wunderbare und schöne Räume für eine Partnerschaft ergeben. Mit einem Tier, von dem wir in Sachen Sozialkompetenz, Achtsamkeit und Wahrnehmung so viel lernen können.

– Und wir können Kompetenzen ausbilden, die uns zu richtig guten Partnern für diese Tiere machen. Die situative Führung, die es unter Pferden natürlich gibt, erfolgt nicht dadurch, dass sich einer durchsetzt, sondern dadurch, dass sich einer einem anderen anschließt – weil es dieser in der jeweiligen Situation “draufhat”, dem anderen im Zweifel Sicherheit vermitteln kann. Wenn wir diese Rolle erfüllen wollen, führt uns zu das beinahe automatisch zu Selbstreflektion und persönlichem Wachstum. Was für eine Chance für die Pferd-Mensch-Beziehungen von morgen!

Auf also, wir brauchen einen Paradigmenwechsel – und dafür jeden einzelnen von uns und euch. Bitte teile diesen Artikel mit anderen Pferdefreunden, lasst uns diskutieren, austauschen, nachfragen, weiterdenken und hineinfühlen. Und vor allem: Auf die Pferde hören, ihnen offen begegnen. Sie werden es uns danken.

Willst du mehr erfahren?

Hast du Interesse, mehr zu diesem Thema zu erfahren? Dann schreib mir doch eine kurze Mail, gern bereite ich mehr Informationen dazu auf. Ansonsten sind hier auch einige gute Quellen:

Ein sehr klar formuliertes Positionsstatement der International Society of Equitation Science (ISES), hinter dem zahlreiche namhafte Ethologen persönlich stehen (Englisch), das ich hier auf Deutsch übersetzt habe.

Mein Artikel “Freundschaft mit Pferden” über ein Seminar mit den beiden Ethologinnen Emily Kieson und Jessie Sams, erschienen in der FEINE HILFEN (Deutsch)

Ein ausführlicher Essay zur Pferd-Mensch-Beziehung von der Verhaltensforscherin Lucy Rees, den ich ins Deutsche übersetzen durfte. (Deutsch)

Ein Interview mit Lucy Rees (Englisch)

Das sehr empfehlenswerte Buch “Horses in Company”* von Lucy Rees (bisher erschienen auf Englisch und Spanisch)

Das Buch “Wahre Freundschaft mit Pferden”* von Tierkommunikatorin Catherin Seib. (Interessanterweise deckt sich nämlich sowohl meine eigene als auch Catherins Erfahrung aus der Kommunikation mit Pferden mit der Erkenntnis der Wissenschaft, dass wir Menschen die Ordnung in Herden falsch verstehen und die Idee von Rang heillos überinterpretieren.)

*Es handelt sich hier um Amazon-Partnerlinks, wenn du darüber kaufst, verdiene ich ein paar Cent mit. Wenn du das Buch aber über denen lokalen Buchhändler beziehen magst, freue ich mich noch mehr.

Über die Autorin

Daniela Kämmerer

Daniela Kämmerer

Visionärin, Pferde-Menschen-Coach, Yogalehrerin, Autorin

Daniela möchte Menschen und Pferden helfen, sich wohler in ihrer Haut zu fühlen und aufzublühen. Nicht zuletzt, da sie nur so auch gut füreinander sein können – und für ihre sonstige Umwelt.

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